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Nur ein Adventskranz

Erzählung Aus Boten der Freude Heft 10

Hans West kam zum 1. Oktober, kurz nach seinem zehnten Geburtstag, zu seiner Tante in die Stadt. Sie war Witwe, hatte nur eine neunjährige Tochter und nahm in ihrer hübschen kleinen Wohnung gern Schüler oder Schülerinnen auf, die das Plöner Gymnasium besuchen sollten. So verdiente sie etwas nebenbei, denn die Witwenpension eines kleinen Postbeamten war nicht reichlich. Auch legte Frau Harder viel Wert auf gute Kleidung für sich und Lorchen, auf gelegentliche Kino- oder Konditoreibesuche, dazu auf eine tadellos gehaltene Wohnung und überhaupt auf den Eindruck, den man nach außen hin machte. Denn "was die Leute von einem sagen' war ihr sehr wichtig.

Da der Förster West ein ganz angemessenes Monatsgeld der Schwägerin zahlte und nicht der Verwandtschaft wegen besondere Ermäßigungen erbat, so nahm Frau Harder den Neffen gerne auf, zumal es im letzten Halbjahr sehr knapp mit Pensionären geworden war. Seit so viele Eltern vom Lande ihre Kinder mit Autos oder den frühen Zügen hereinschickten, gehörte es zu den Seltenheiten, noch Kinder in Pension zu bekommen. Die kleine Giebelstube mit dem Blick auf den Plöner See wurdc sorgfältig für Hans hergerichtet, der sie mit einem älteren Jungen teilen sollte. Dieser Zimmergenossen Hellmut Wöhlke, war aus Krankheitsgründen seit den großen Ferien zu Hause geblieben. Ein Unfall bei einer Wagenfahrt mit seinem Vater hatte ihm, ein arg verletztes Bein beigebracht, das schließlich sogar zu einer Lahmheit führte, deren spätere Heilung noch sehr zweifelhaft war. Hans und Hellmut waren die einzigen Schüler, die Frau Harder zur Zeit im Haus hatte.

In ihrer hastigen, geschäftigen Weise sorgte sie äußerlich gut für die drei Kinder, ihr Lorchen und die beiden Jungen. Das Essen war pünktlich und kräftig, die Zimmer sauber und gepflegt. Nur konnte man sich Else Harder nie wirklich ruhig und gesammelt vorstellen. Selbst bei den Mahlzeiten fuhren ihre lebhaften braunen Augen suchend im Zimmer umher, ob auch dort etwa Staub zu entdecken oder hier etwas zurechtzurücken sei.

"ja, ja, die is immer mächtig in Fahrt", vertraute Hellmut schon am ersten Abend seinem Stubengenossen an, und Hans, der bisher die Tante kaum gekannt, nickte nachdenklich. Hans, aus dem stillen Forsthaus, konnte sich nur schwer in dieses Leben finden. Die Mitschüler kamen ihm alle so schlau und gewitzt vor, und er wurde unter ihnen noch stummer, als er es ohnehin, mit einer leisen Anlage zum Stottern behaftet, gern war. Rasch hatte ein Klassenkamerad ihm den Namen Stockfisch" angehängt, aus dem in herzlosem Kindermund auch Stotterfisch" wurde. Aber Hans schien recht unbekümmert um den Eindruck, den er machte.

Er lernte gut und gewissenhaft, nahm alles Neue in den Stunden mit einem, wenn auch stillen Interesse, eifrig auf, und die Lehrer sahen seinen aufmerksam leuchtenden Augen in den Geschichtsstunden oder in der Naturkunde an, daß in dem unscheinbaren Kind ein lebhafter, lernbegieriger Geist steckte. West und Frau hatten immer viel Zeit und Liebe für diesen ältesten Jungen gehabt. Die einfache Ruhe des Lebens im Forsthaus ließ jedem Eindruck sein Recht, und Frau West hatte selbst das gleiche stille nach innen gekehrte Wesen ihres Jungen und daher viel warmes Verstehen für ihn.

Darum aber war auch sein Heimweh groß nach den Eltern und nach dem schönen herbstlichen Wald, durch den er täglich mit dem Vater gewandert. Ein wahrer Trost war hier in der Wohnung der Tante der Blick auf den Plöner See, seine Boote und Dampfer. Überhaupt jede Stunde, die man am Wasser zubringen konnte, bedeutete Glück. Aber die langen Schulstunden und Arbeitsnachmittage im Haus, vor allem die Abende machten dem Jungen doch oft das Herz schwer. Lorchen war ein bißchen verzogen und altklug, aber sonst ein liebes kleines Ding. Doch Hellmut war oft schwer zu ertragen, so leid er einem tat. Denn er klagte und jammerte fortwährend über sein Mißgeschick. Er beneidete laut Hans um seine gesunden Glieder, wurde mißtrauisch und launisch. Darunter litt Hans mehr, als er es sich merken ließ.

Nun begann die Adventszeit, und Hans erwartete ganz selbstverständlich, daß ihr auch hier bei der Tante die gleiche fröhliche Andacht entgegengebracht werde, wie daheim.

"Wo hängt immer euer Adventskranz?' fragte er Lore. Die sah ihn verdutzt an. "Was meinst du eigentlich?" Hans erklärte ein bißchen umständlich und stotternd. Aber aus seinen unbeholfenen Worten klang wohl doch so viel Freude und Wichtigkeit, daß Lore neugierig wurde.

"Möcht ich auch haben, Hans! Was kost' das?" Hans lachte. "Kost' das? Fragst du dumm. Den machen wir uns selber. Mutter soll mir Zweige schicken, ich schreib's ihr."

Frau West lächelte über den Brief ihres Jungen. Aber sie freute sich, daß er daran dachte. Nur traute sie dem Geschick der Bubenhände kein erfolgreiches Wickeln zu. Und so schickte sie ihm mitsamt seinem gerade fälligen Wäschepaket zum 1. Advent einen schönen Kranz aus heimatlichen Fichtenzweigen mit Kerzen und roten Bändern zum Aufhängen. Dazu aber noch einige Fichten und Kiefernzweige, mit denen Hans sich je nach Wunsch sein Zimmer schmücken konnte. Ein kleines wunderschönes Transparent lag dabei. Das hatte die Mutter selbst geschnitten, sie verstand sich so gut darauf. Als Hans es auspackte, hielt er es lange behutsam in den Händen. Das dreiteilige Transparent zeigte im Mittelstück auf mattblauem Seidenpapier als Hintergrund ausgeschnitten und eingeklebt eine gelbe Kerze mit rotgelber Flamme. Über diese Kerze neigte sich ein schwarzer Fichtenzweig. In den Seitenteilen sah man wieder, auf dem blauen Hintergrund kniend, rechts einen Knaben mit geneigtem Kopf und gefalteten Händen, links ein Mädelchen mit baumelnden Zöpfen.

Die Andacht dieser zarten, einfachen Arbeit ergriff den Jungen, so daß es wie unerträgliches Heimweh über ihn kam, nicht gleich nach Mutters Hand greifen zu können. Wenn jetzt bloß nicht der Hellmut hereinkam und ihn störte. Er hörte Schritte auf der Treppe, schnell verbarg er den ganzen Kranz unter der Bettdecke und das Transparent in der Nachttischschublade. Nur noch die Wäsche blieb sichtbar.

Aber es war nur Frau Harder, die mit frischen Handtüchern für die Jungens zum Sonntag, hastig das Zimmer betrat. Sie sah die offene Schachtel, das verlegene Gesicht des Jungen und vermutete eine Heimlichkeit. Sicher war da allerlei Eßbares von Hause gekommen! Bekam der Bengel denn nicht reichlich bei ihr, was sollte also der Unsinn? Lieber mehr Bargeld für sie, das hätte noch Sinn. Und aus diesem Arger heraus fragte sie spöttisch:

"Na, ein Festpaket? Tu man nicht so heimlich. Wir werden dir nichts wegschnappen. In meinem Hause wird man auch ohnedem satt!"

Hans überkam wie immer, wenn er aufgeregt wurde, das leidige Stottern.

"N - nein, - hab - hab ja ni - nichts.'

Die Tante sah eben die leicht gewölbte Bettdecke, und sie schlug sie höhnisch zurück mit den Worten:

"Wußt ich's doch! Warum lügst du denn?"

Gelogen hatte Hans nicht, so lange er denken konnte. Das galt zu Hause als zu ehrlos. Er wurde flammend rot! Das wurde Frau Harder nun freilich auch, als sie statt des Wurstpakets oder anderer Eßwaren den schönen grünen Kranz sah, in dessen Zweigen der Spruch steckte: Der Herr ist nahe, sorget nichts. Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen. Das Wort Lindigkeit" war es vielleicht, das die Frau so rot werden ließ. Wie weit war dies Wort von dem entfernt, was sie soeben gezeigt hatte. Dazu das Gesicht des Jungen, halb traurig, halb empört, und er selbst sichtbar mit dem Wunsch kämpfend, diesen Schatz aus der Heimat wieder zu verbergen. In diesem Augenblick kam Lorchen der Mutter nachgelaufen.

,Du, unten ist die Frau Lorenz, sie will den Schlüssel zum Trockenboden."
Dann blieb Lore staunend mitten im Zimmer stehen.
Au, is das fein! Hans, wo kommt der her?"

"Natürlich von Mutter! Das ist immer so bei uns zu Advent", sagte Hans jetzt wieder ganz ruhig und sicher. Ihm war die beschämte Verlegenheit der Tante nicht entgangen. Und er kam sich plötzlich so reich vor, daß er eine so andere Mutter hatte, wie es die vom Lorchen war. Eine Mutter, die ihm so liebe lange Briefe schrieb, die immer Zeit für ihren Jungen hatte, mündlich oder brieflich. Eine Mutter, die solch wunderschönes Transparent ausschneiden konnte und bei der Advent etwas ganz Feierliches, Herrliches war. Die Einsamkeit, die Hans so oft zwischen den Schuljungen, in den Straßen der Stadt oder auch hier im Hause spürte, ging plötzlich unter in dem Ahnen und Begreifen, was er für ein schönes, friedliches Zuhause hatte. Wenn er auch nicht durchschauen konnte, daß es die ewigen Wurzeln und Quellen waren, die das einfache, einsame Forsthaus zu einer rechten und stärkenden Heimat für groß und klein machten, so dämmerte es doch seinem kindlichen Sinn, daß es irgendwie ganz anders' bei Mutter war als hier - und hundertmal schöner".

Frau Harder kam Lores Ruf sehr willkommen, sie verließ hastig das Zimmer, froh, kein Wort über den befremdlichen Fund weiter verlieren zu müssen. Sie rief nach Lore, wollte sie mit forthaben. Deren Bewunderung für den Kranz paßte ihr nicht. Aber Lore, durchaus nicht an Gehorchen gewöhnt, sondern eigenwillig und ein wenig verzogen, wie einzige Kinder es leider oft sind, dachte im Traume nicht daran, der Mutter zu folgen. Entzückt besah sie immer wieder den Kranz, zupfte an den Bändern, fragte, wo er hängen sollte und begann endlich auch laut den Spruch vorzulegen. Wieder wollte Hans eine Verlegenheit überkommen, um so mehr, als zum Unglück auch ausgerechnet jetzt Hellmut nach Hause kam. Müde und blaß nach dem Gang durch die von einer leichten Schneedecke glitschigen Straßen, trat der lange Junge ins Zimmer. Das Bein schmerzte, die Laune war schlecht. Lorchen sagte eben mit erhobener Stimme: "Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen; was heißt das, Hans? Versteh ich nicht." Und darauf sollte man nun antworten, unter Hellmuts mißmutigen spöttischen Blicken!

"Na, Stockfisch, was is hier los? Bibelstunde?" Lorchens sehr flinkes Mundwerk kam Hans zuvor: "Halt doch den Schnabel, du mußt immer bloß schimpfen." Sie maulte. "Laß mich doch mal Hans was fragen." Und dann höchst kriegerisch: Der ist überhaupt viel netter als du. Gar kein Stockfisch. Paß mal auf, dich nenn ich nächstens noch Stinkfisch!" Damit brach sie in ein schallendes Gelächter aus über den eigenen wohlgelungenen Witz. Hans war ganz starr, plötzlich von der Lore so gründlich verteidigt zu werden. Er vergaß darüber völlig zu antworten, räumte stumm die frische Wäsche von zu Hause in den Schrank und ergriff, als er damit fertig war, ruhig den Kranz mit den Worten:

Lore, bis heute Abend verwahr ich ihn noch, dann hängen wir ihn zusammen auf."
"Fein', rief Lorchen, "kann er mal einen Tag auch in meine Schlafstube?"

Sie hatte ein eigenes Zimmerchen zum Schlafen, Spielen und Lernen neben der Stube der Mutter und war sehr stolz darauf. Hans nickte und Hellmut schwieg. Dann rief Frau Harder zum Mittagessen; und keiner berührte bei Tisch mehr das Geschehene.

Abends war Hellmut bei einem Klassenkameraden eingeladen und Frau Harder hatte Besuch von einer Nachbarin. So blieben Hans und Lore sich selbst überlassen. Das kam ihnen gelegen. Der Kranz wurde im Giebelzimmer der Jungen aufgehängt, die vier Kerzen daran befestigt und eine davon im dunklen Zimmer angesteckt. Lore jubelte, fand alles gar zu schön und neu.

" Nu halt dir mal die Augen zu", sagte Hans. Das tat Lore, wenn auch sehr ungeduldig. Umständlich und langsam wie Hans immer war, holte er das Transparent aus der Nachttischschublade, baute es auf dem Tisch am Fenster auf, und ein kleines Lichtchen, das die Mutter vorsorglich auf niedrigem Holzleuchter noch mitschickte, kam dahinter, wurde angezündet und brachte die Bildchen zu schönstem Leuchten.

Hans mußte es erst richtig eine Minute ganz allein genießen. Nein, was hatte Mutter das schön gemacht! Lore trampelte schon ungeduldig.

"Dauert ja ewig. Nu mach ich nich mehr mit."
Da rief Hans dann endlich:
",Kannst kommen, Lore."

Mit einem Sprung stand Lore neben ihm. Das dunkle Zimmer, das zu ihren Häupten sanft brennende Licht am Adventskranz, das nun geheimnisvoll aufleuchtende Transparent und Hansens andächtiges Gesicht ließen Lores lebhafte Zunge verstummen. Ganz still stand sie neben dem Vetter, schob dann halb verlegen ihre kleine Hand in die seine und flüsterte endlich sehr leise: "Au, is das fein."

Das war Lores Redensart. Aber heute kam es so ernsthaft und sanft heraus, daß Hans sich mächtig freute.

"Von Mutter", sagte er ebenso leise. Dann blieb es wieder ein Weilchen still. Es roch nach Wachs im Zimmer, denn Frau West hatte echte gelbe Wachskerzen geschickt. Lore trat nun, fast auf Zehenspitzen, näher an den Tisch, beugte den Kopf mit all dem krausen blonden Haar zu dem Transparentund deutete mit einem Finger vorsichtig auf das Bild des knienden Jungen.

"Sollst du das sein?" fragte sie dann, aber es klang gar nicht ein bißchen spöttisch. Hans antwortete nichts, ihm war der Gedanke dieses Vergleichs nicht gekommen. Plötzlich aber antwortete er kühn auf das linke Bildchen zeigend: Und das bist du, Lore."

Lore nahm das durchaus nicht übel, sondern betrachtete ihr Vorbild ausführlich. Dann sagte sie leise: "Aber ich bete eigentlich nie."

"Nicht abends?" fragte Hans richtig erschrocken. Sie schüttelte den krausen Kopf. "Du vielleicht?" fragte sie ungläubig. "Das ist doch nichts für Jungens. Höchstens für'n Pastor, sagt Mutter." Hans wurde wieder rot, aber das schadete ja nichts im Dunkeln. Dann faßte er sich ein Herz.

"Mutter hat alle Tage mit uns gebetet. Wenn sie mal nicht da war, kam Vater zu mir ans Bett." Lore verstummte. Onkel Richard war ja ein großer richtiger Mann. Sie fand, er sah fein aus in seiner grünen Uniform. Und der betete mit Hans! Was waren das alles für Neuigkeiten.

"Jetzt hängen sie auch zu Hause den Kranz auf, und morgen abend feiern sie dabei", sagte Hans, und es klang recht sehnsüchtig. Lore fragte vorsiditig: "Hast du manchmal Heimweh?" Die Antwort blieb aus. So was konnte man vor einem Mädel nicht zugeben. Aber Lore erriet wohl die Wahrheit. Sie sagte eifrig: Du, wir feiern aber auch. Ich krieg sicher ein bißchen Pfefferkuchen, und dann singen wir." - Hans nickte erfreut.

Frau Wests Gedanken, die, indem sie über dem Wohnzimmertisch den großen Adventskranz befestigte, ihren Jungen suchten, hätten Freude an den beiden Kindern gefunden, die dort flüsternd im Dunkeln standen. Als sei in diese hastige, ein bißchen kühle Häuslichkeit plötzlich ein Stück "Lindigkeit" gekommen, Schein und Glanz eines Lichtes, das unentwegt auf tausend geheimen Wegen in unsere dunkle Welt einzubrechen sucht. Aber Licht ist oft unbequem. Enthüllt, was so angenehm im Dämmer verborgen lag. Woran unsere Gedanken nie rührten. Weckt plötzlich eine Verantwortung, die wir bisher umgingen!

So schien es Frau Harder zu ergehen, als Lore an diesem Abend bei dem Auskleiden sagte: "Du, Mutter, Hans betet und Onkel Richard auch. Du sagst doch, das is bloß was für'n Pastor." Frau Harder kniete an der Kommode und suchte saubere Strümpfe für Lore zum Sonntag heraus. Sie dachte an ihren verstorbenen Mann, den Bruder von Hansens Mutter. Der hatte mal von ihr gesagt: Die Luise wirft nichts um. Die hat ein Gottvertrauen zum Beneiden!" ja, und so erzog sie wohl auch ihre Kinder? Ob Lore womöglich den Hans jetzt bewunderte? Um seinen dummen Kranz mit dem komischen Spruch, um sein Abendgebet? Sie wußte einfach keine Antwort. Da fuhr Lore fort:"Aber feiern kann ich doch morgen abend mit Hans? Weil erster Advent ist. Sonst kriegt er ja Heimweh. Und ich weiß auch ein Lied aus der Schule: Wie soll ich dich empfangen". Das will ich mit Hans singen. Du sollst bloß mal sehen, was ihm seine Mutter geschickt hat. Ein piekfeines Bild. Da kniet ein Junge wie Hans, und er sagt, das Mädel darf ich sein."

Frau Harder wäre am liebsten aufgefahren und hätte in ihrer heftigen Art gerufen - "So'n Quatsch verbitt ich mir", aber sie konnte ja Lore nun mal nichts abschlagen. Es war also nicht etwa Einsicht um Versäumtes, was sie schweigen ließ, sondern eine weiche Duldsamkeit, die sonst nur zu oft am falschen Platz dem Kinde nachgab.

Das Mädel darf ich sein", wie stolz das Lore gesagt hatte. Am nächsten Morgen, während die Kinder, auch der lahme Hellmut, sich im Hof schneeballten, räumte Frau Harder wie gewöhnlich die Giebelstube der jungen auf. Dabei sah sie den Kranz hängen und entdeckte auch das Transparent. Lores Worte wurden ihr dabei erst richtig klar. Eine Eifersucht, wie sie sie manchmal schon gespürt hatte, wenn ihr verstorbener Mann von der Luise sprach, wollte in ihr aufsteigen. Aber eben klangen schwer und feierlich die Glocken. Sie brachten Frau Harders Eifersucht zum Schweigen und weckten statt dessen das schlafende Gewissen.

So kam es, daß, statt abends den Bitten der Lore im Wege zu stehen, sie alles herausrückte, was dies Kind zur kleinen Adventsfeier notwendig fand.

"Und der Kranz darf dabei sogar in meiner Stube hängen!" erzählte Lore begeistert. Und Hellmut lad ich bloß ein, wenn er nicht wieder so eklig ist und immer Stockfisch sagt"

Aber Hellmut war dieses Mal gar nicht eklig, sondern saß ganz still und in sich gekehrt in einer Ecke von Lores Zimmerchen, knabberte an dem Pfefferkuchen und fand es eigentlich alles recht schön. Es waren ja oft nur Hilflosigkeit und Kummer, die ihn so kratzbürstig machten. Das fing auch Hans an zu begreifen und beschloß anders als bisher mit dem Zimmerkameraden umzugehen. Hatte er es nicht so viel tausendmal besser als der? Lore sang mit schmetternder Stimme: "Wie soll ich dich empfangen". Hans stimmte erst leise, dann immer lauter ein, schließlich summte auch Frau Harder halb verlegen die lange vergessenen Worte mit, und zu all dem kleinen Menschenleid und stillen Kampf und sehnsüchtigen kindlichen Tasten nach der ewigen Himmelstür leuchtete still und tröstend das Lichtchen auf nachtblauem Grunde.

 

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